Kogan in Paris 2023

Nun bin ich nach vier Jahren wieder in Paris. 2019 hatte ich bei meiner Spurensuche in dieser von Moissey Kogan so geliebten Stadt dessen verschiedene Wohn- und Arbeitsorte aufgesucht. Dieses Mal gilt meine Aufmerksamkeit dem vorletzten Aufenthaltsort in seinem Leben, dem Internierungslager Drancy, von wo aus er nach Auschwitz transportiert wurde und den Tod fand.

In Paris gibt es im Zusammenhang mit dem Holocaust zwei Erinnerungsstätten: Memorial de la Shoah im Stadtzentrum, rue Geoffroy l’Asnier und Memorial de la Shoah im Vorort Drancy, avenue Jean-Jaurès.

Beim Eintritt in das Memorial im Stadtzentrum werden strenge Sicherheitskontrollen durchgeführt. Auch vor dem Gebäude steht Security-Personal. Ich schaue mir zunächst die permanente Ausstellung an. Sie stellt die europaweite Entwicklung dieses schrecklichen Geschehens dar. Vieles kenne ich aus anderen Ausstellungen- Yad Vashem, Auschwitz, Jüdisches Museum Berlin usw. Immer wieder berühren mich die Beschreibungen und Fotos zutiefst und machen mich traurig. Wie konnte es geschehen, dass in unserem scheinbar so kultivierten Lebensraum solch eine Maschinerie der Entmenschlichung entstehen konnte? Erinnerungskultur ist für mich in diesem Zusammenhang eine wichtige Geste für all diese unschuldigen Opfer. Sie dürfen trotz des sinnlosen Todes nicht vergessen werden.

Im Innenhof steht die „Mur des Noms“- die Mauer der Namen- in die die 72000 Namen der Männer, Frauen und Kinder eingraviert sind, die zwischen 1942 und 1944 aus Frankreich deportiert wurden. Ich gehe sie entlang und finde ihn: Moïse Kogan 1879. Ich begebe mich in den vierten Stock, in die Abteilung Dokumentation, um nach Unterlagen über Kogan zu fragen. In dem Lesesaal herrscht bedrückende Stimmung. Einzelne Besucher und kleine Gruppen, wahrscheinlich Familien, sitzen vor Dokumenten und an Bildschirmen. Sie wirken betroffen. Ich möchte die Frau am Informationstisch nach Dokumenten über Kogan fragen, aber zwei Frauen, eine jüngere aktivere und eine ältere zurückhaltende, haben viele Fragen an sie. Die jüngere Frau hält ein Blatt mit einer Kopie eines Gruppenfotos in der Hand und weint zeitweise. Nach einer Weile gehe ich leise und unverrichteter Dinge aus dem Raum.

Gerne nehme ich die Möglichkeit des Bus-Shuttles in Anspruch, den die Gedenkstätte im Stadtzentrum zum Besuch einer Führung in der Aussenstelle in Drancy sonntags anbietet. Es ist eine kleine Gruppe von ca. 20 Besuchern, die sich am Nachmittag am Treffpunkt einfindet. Beim Einsteigen in den Bus lächelt mich eine ältere Frau in der ersten Reihe freundlich an. Ich überlege einen Moment, ob ich mich zu ihr setze, nehme dann aber einen Platz weiter hinten ein. Im regen Pariser Stadtverkehr dauert die Fahrt in den Vorort ca. 45 Minuten. Das Informationszentrum befindet sich in einem Neubau auf der gegenüberliegenden Straßenseite vom ehemaligen Lager. Da die Führung auf Französisch erfolgt und ich die Sprache nur wenig beherrsche, sondere ich mich ein wenig ab und schaue mich um. Der älteren Frau geht es wohl ähnlich. Wir kommen ins Gespräch und sie erzählt mir auf Englisch, dass sie aus Washington angereist sei und kein Französisch verstehe. Sie schaut mich ein wenig verwundert an, als ich ihr sage, dass ich aus Deutschland komme. Sie sei auch schon in Berlin im Jüdischen Museum gewesen und habe die Holocaust-Gedenkstätte besichtigt. Ich überlege mir, ob ich sie nach dem Grund ihres Besuchs frage und ich ihr meine Geschichte mit Kogan erzählen soll. Ich bin mir sicher, dass sie Jüdin ist. Etwas hemmt mich. Sie würde sich bestimmt freuen. Irgendwie habe ich Sorge, dass sie es als Anbiederung ansehen könnte. Der Enkel der Tätergeneration will etwas gut machen. Zum ersten Mal erlebe ich bei mir diese Reaktion. Sie führt dazu, dass ich die Frau nicht anspreche. Was hätte aus dieser Begegnung entstehen können?

Es folgt eine Begehung des Geländes der „Cité de la Muette“. Zunächst stehen wir am Denkmal des Bildhauers Philipp Hertzog, zu dem auch ein originaler Eisenbahnwaggon gehört. Wir erfahren, dass die Gefangenen aber mit einem Bus zu den nächsten Bahnhöfen Gare de Bobigny oder Gare du Bourget gebracht wurden, von wo aus die Reise in die Konzentrationslager startete. Das große fünfstöckige Gebäude, ein U mit 200m Länge und 80m Breite und einem ausladenen, mit Bäumen bepflanzten Innenhof, ist heute von vielen Familien bewohnt- wohl alle mit Migrationshintergrund. Wir erfahren, dass das Gebäude sich noch im Rohbau befand, als das Lager eröffnet wurde. Es gab kein Wasser, keinen Strom, keine Möbel. Sanitäranlagen wurden provisorisch im Hof eingerichtet. Die Räume waren völlig überfüllt.

Moissey Kogan wurde am 4.2.1943 in Paris verhaftet, als er sein sicheres Versteck verließ. Er wurde nach Drancy gebracht. Kogan hat bestimmt auf Hilfe seiner zum Teil einflussreichen Freunde gehofft. Wie sehr enttäuscht muss er gewesen sein, als dies nicht eintraf? Eine Woche später, am 11.2., begann seine zweitägige Reise nach Auschwitz, durch Frankreich, Deutschland und Polen. Die Reise ist mit all ihren Zwischenstopps dokumentiert, u.a. Metz, Saarbrücken, Frankfurt, Dresden, Görlitz und Kattowitz. (In Görlitz hatte meine Mutter zwei Wochen vor der Durchreise des Zugs ihren achten Geburtstag gefeiert.) Am 13.2.erreichte der Transport das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Es wird davon ausgegangen, dass er auf Grund seines Alters von 63 Jahren noch am selben Tag in der Gaskammer getötet wurde. In meinem Beitrag „Eva- eine hommage an Moissey Kogan“, auf dieser Homepage, berichte ich von meiner Reise nach Auschwitz im November 2015, an den Ort, wo das Leben dieses besonderen Bildhauers zu Ende gegangen ist.

Als unsere kleine Besuchergruppe mit dem Bus wieder im Zentrum von Paris ankommt, gebe ich der Amerikanerin zum Abschied die Hand. Da umschließt sie meine Hand mit ihren beiden und schaut mir freundlich in die Augen. Diese besondere Geste habe ich vor einigen Jahren einmal erlebt- als mich eine junge Israelin begrüßte.